Franziska Furrer: LandschaftsromanEröffnung 19. April 2016/Winterbergpark in Altdorf
Jeder kennt die roten Holzbänke, die wild verteilt in Dörfern und Landschaften zum Sitzen, Ausruhen, Innehalten, zum Plaudern, Warten, Beobachten, zum Picknicken, Kichern und wieder zum Aufstehen und Weitergehen einladen. Manchmal ist die rote Farbe bereits verwittert, das Holz spröd, die Bänke geritzt und von Einschreibungen versehrt. Oft sind die Bänke inmitten einer Landschaft, so selbst¬verständlich, dass man sie leicht übersehen kann, und nur für jene willkommener Genuss, die sich gerade dort ausruhen und allenfalls gar den eigenen Blick schweifen lassen wollen.
7 rote Bänke, die Raum und Zeit für Sehnsucht bieten. 7 rote Sitzbänke, die die Landschaft strukturieren, Geschichten sammeln und mit der ersten Seite des Landschaftsromans beginnen.
Sich hinsetzen, ausruhen, aufstehen und weitergehen…
Die roten Bänke demonstrieren die Einladung: nimm Platz. Setzt dich zu mir hin. Lass Dich für einen Augenblick nieder. Mach eine Pause und ruhe dich aus.
Es ist erstens eine Einladung zur Zeitverschwendung. Erst wer sich die Zeit nimmt, auf einer der 7 Bänke zu pausieren, wird realisieren, wie sein Alltag durchgeplant und getaktet ist, wie unmöglich die Idee erscheint, durch das eigene Dorf zu flanieren und mit verfremdenden Blick die vertraute Landschaft anders zu sehen. Erst wer sich niederlässt auf einer der Bänke, spürt vielleicht sein Tempo und seine Müdigkeit, spürt die Langsamkeit und Neugier des Kindes, das einige Meter hinter ihr geht, das Gewicht der Taschen, die sie mitschleppt. Erst wer sich niederlässt, erfährt möglicherweise seine eigene Sehgewohnheit und seine Blindheit für Unerwartetes. Der schnelle Rhythmus, die Sehgewohnheiten und die Müdigkeit sind Zeichen der Zeit, die heimlich und unwiederbringlich vergeht. Die Zeit, die vergangen ist, hinterlässt ihre Spuren auf Bänken, in Gesichtern, in der Landschaft, Wie aber lässt sich unmittelbare Zeit, das Jetzt, flüchtig und unsichtbar, einfangen?
Es ist zweitens eine Einladung zur Wiederholung. Sich hinsetzen, ausruhen, wieder aufstehen, weitergehen. Sich hinsetzen und wieder aufstehen. Absitzen. Aufstehen. Weitergehen. Wenn sie sich hinsetzt und sich ausruht, dann kommt ihr Körper zum Stillstand und ihre Gedanken laufen weiter; wenn sie weitergehen will, kommen ihre Gedanken manchmal zur Ruhe und der Körper läuft weiter. Eine fliessende Bewegung, wie jene von Sich-hinsetzen, ruhen, aufstehen, weitergehen. Sich-hinsetzen, ruhen, aufstehen, weitergehen. Sich-hinsetzen, ruhen, aufstehen, weitergehen. Sich-hinsetzen, ruhen, aufstehen, weitergehen. Sich-hinsetzen, ruhen, aufstehen, weitergehen. Es ist eine Wiederholung, die so offensichtlich ist, das das wichtigste übersehen wird, nämlich: Was wird wieder geholt? Wo ist in dieser Bewegung die Abweichung im Rhythmus?
Zurück geholt werden Phantasien und Vorstellungen, Erinnerungen, innere Bilder, verloren geglaubte Gedanken. So schaut vielleicht die Schülerin von ihrer Bank der Suwaroff-Matte zum Sportplatz und träumt von ihrem elegant geschossenen Goal. Was wäre, fragt sich der erschöpfte Strassenwischer auf der Bank an der Hagenstrasse, wenn ich die Kaugummis und Zigarettenstummel vor der Bank nicht mehr zusammenwischen, sondern den Besen den Jugendlichen in die Hand drücken würde? Warum ist das Tor immer geschlossen, fragt sich die junge Frau auf ihrer Bank im Winterbergpark, bin ich nun eingeschlossen oder vor dem Verkehr gesichert? Ich bin so müde, ich könnte doch auch auf einer fahrenden Bank im Zug sitzen, denkt sich der Bankangestellte auf der Sitzbank an der Bahnhofsstrasse. Damals sassen wir noch gemeinsam hier und hörten dem Plätschern des Brunnens zu, erinnert sich die alte Frau mit Hütchen auf der Sitzbank der Hellgasse, beschützt im Rücken von der Madonna…. Erinnerungen werden wach, Phantasien tauchen auf. Der eigene innere Reichtum wird aktualisiert und so aufgehoben.
Es ist drittens eine unspektakuläre Einladung, den gewöhnlichen Ablauf der alltäglichen Ereignisse auszusetzen. Ein Einbruch der Möglichkeit in die Realität des Alltags.
Die roten Bänke erscheinen mir subversive Mahnmale einer Zwischen-Zeit zwischen selbstverständlichem Alltag und irritierender Abweichung, zwischen Gewohnheiten und Aufbruch. Sie werden zu einem Ort in der Landschaft, wo der Wirklichkeitsdruck aufgeweicht wird und der Möglichkeitssinn an Kraft gewinnt.
Atmosphären
Die 7 roten ausgewählten Bänke verführen zu einem Selbstexperiment. Was geschieht mir, wenn ich mich auf diese Bänke niederlasse? An welche Orte tauche ich ab? Welche Atmosphären tauchen auf?
Der Standort jeder der 7 Bänke ist einzigartig und evoziert eine spezifische Atmosphäre. Der Blick an die Wand, vor der ein Kühlschrank steht. Der Wald im Rücken mit all seinen Geräuschen, gleichsam ein Soundteppich im Hintergrund. Das stetige Plätschern des Brunnens. Das Licht im Park, das das schmideiserne Tor zum Glänzen bringt.
Der Ort selbst entwickelt eine Atmosphäre, eine spezifische Stimmung, die sich mit der subjektiven Gestimmtheit jenes Menschen mischt, der sich auf die Bank hinsetzt. Auf der roten Bank entwickelt sich ein Austausch der Atmosphäre des Ortes mit der Gestimmtheit der Besucherin, die bis anhin so klaren Abgrenzungen und Ränder lösen sich auf, es mischen sich Stimmungen, Eindrücke – so dass Sehnsucht entstehen kann.
Diesen sanften, randlos ergossenen Gefühlen widerspricht die Schärfe des Bildausschnittes. Denn: wer eine rote Bank ausgewählt hat, sich dort niederlässt, sich von der Atmosphäre auch umfangen lässt, kommt nicht umhin, das zu sehen, was die Bank zu sehen geben will. Die Bank ist genauso hingestellt worden und gibt einen klaren Ausschnitt der Welt vor. Schau jetzt hierher! Zwar kann man den Blick schweifen lassen, den Kopf drehen – aber man bleibt auf der Bank eingeschränkt und muss dorthin sehen, wo es die Bank einem abfordert.
Die Atmosphäre umschmeichelt den Blick des Bankbesuchers, die Bank zwingt seinen Blick in gewisse Richtungen. In diesem Spannungsfeld beginnt das Selbstexperiment: Was geschieht mit mir? Was wird mir zu sehen geboten? Was sehe ich auch noch? Auf der roten Bank beginnt eine Art phantastisches „Fern-Sehen“. Ein Blick in die Ferne mit Stoff aus der eigenen Innenwelt und erinnerter Welt.
Landschaftsroman
Wer auf einem der Bänke sitzt, kann sich dem Fernsehen übergeben und sich der gestauten Zeit überlassen.
„Mach dich nicht lustig über mich“, murmelt sie vor sich hin. „Du weisst noch nicht was es heisst, an diese Erde gefesselt zu werden. Du sollst nicht denken, Erfahrungen wären jedem vergönnt. Erfahrung ist Luxus“ (Susanne Moore). Erfahrung, gerade auch im Sinne von gestauter Zeit, ist in der heutigen Zeit jener Luxus, der sich aus Erinnerungen und Selbstreflexion zusammensetzt. Ein glänzender Luxus, der sich einer Marktlogik und raschen ökonomischer Verwertung entzieht. Erfahrungen sind ein Luxus, der von Wieder¬holungen, von erlebtem Leid und Glück zeugt. Erinnerungen, gleichsam Perlen, die zu glänzen beginnen, wenn man sie sorgfältig ans Licht hält; gefährliche Sehnsüchte, die von noch nicht erfüllten Wünschen, von erhofften Zukunftsplänen und Emanzipationsmöglichkeiten sprechen; Verortungen und Verankerungen in eine Landschaft, so dass unsere Sehnsüchte nicht frei flottieren, sondern konkretisiert werden können.
Nicht nur die Sitzbänke haben ihre Geschichten zu erzählen, auch die Menschen, die sich darauf niederlassen und ebenso die Landschaft, die Mensch und Bank aufnimmt. Ein Roman mit drei Perspektiven und mindestens drei Zeiten.
„Schleifen in der Zeit. // Die Art, Dinge zweimal oder öfter zu sehen. // Dinge, die zusammenkommen, // Dinge, die auseinanderbrechen. // Die vereinzelte Möglichkeit, // die alles verändern könnte // oder auch nicht.“ (Franziska Furrer, Wegmattgässli)
Der Landschaftsroman beginnt mit der Müdigkeit und der Neugier eines jeden Menschen, der sich auf einer Bank niederlässt und sich dem Augenblick überlässt.
Tätowierte rote Bänke
Die roten Sitzbänke sind ihrerseits wieder Zeitzeugen. Da wurden Sprüche und Herzen eingeritzt, mit wasserdichter Farbe geschmiert, der Lack des Holzes zeigt Risse, das Logo der Gemeinde bezeugt einen anderen Anlass. Es sind nicht nur Zeichen der vergänglichen Zeit, es sind auch Spuren einer Sehnsucht, gerade nicht vergänglich zu sein, übermalen oder abgeschliffen zu werden, sondern zu überdauern.
Die Spuren der Zeit auf den Sitzbänken sind eigentliche Tätowierungen. Wo Narben waren, sollen Geschichten erzählt werden können. „Wo Tätowierung war, soll Kunst werden.“ (Peter Sloterdijk) Auf jedem der Bänke kann die erste Seite eines eigenen, subjektiven Landschaftsromans entstehen.
Lisa Schmuckli, freie Philosophin - Luzern, im März 2016