Kunst‐ und Kulturstiftung Heinrich Danioth/ Werk- und Förderungsbeiträge 2009
Kunst
- und Kulturstiftung Heinrich Danioth
Werk-
und Förderungsbeiträge 2009
Haus für Kunst Uri, Altdorf, 12. Dezember 2009
Das Sie sehen, ist nicht, was es scheint. Der Stein, an dem Sie vorhin im Durchgang zum Danioth-Pavillon vorbei gegangen sind, ist kein Stein. Er ist ein Nadelkissen. Das erkennen Sie erst, wenn Sie ganz genau hinsehen. Franziska Furrer hat Tausende gewöhnlicher Stecknadeln in ein
weiches
Kissen hineingesteckt, bis es aussah, als läge da, schwer und abweisend, ein Stein. Aber weist er denn ab, lädt er nicht eher zur Berührung, zur Erfahrung von Nähe? So scheint es doch vor allem neben den stachligen Kugeln, die nun wirklich nicht dazu einladen, danach zu greifen.
Sie scheinen nichts als spitz und stachlig zu sein –
und sind es auch. Schein und Sein treffen sich, und wo das Sein ist, ist die Wirklichkeit. Und aber die Kunst?
Sie ist, was das Sein, die Wirklichkeit überschreitet, was sie negiert, verwandelt, in den Schein überführt und dem Sein seinen Vorrang streitig macht. In der Kunst ist der Schein mächtiger als das Sein. Was ist, hat in der Kunst auch zu scheinen. Die schwarzen Kugeln, die sich oben auf den
sieben Dachlatten zur Wolke ba
llen, scheinen aus Wolle zu sein. Das möchten wir gerne
überprüfen, das Sein dieses Scheins würden wir gerne mit Händen greifen. Leider sind die
schwarzen Dinger zu hoch für uns. Jetzt sagt er gleich, denken Sie sich: was zu hoch ist, ist
sowieso schon Kun
st. Ich sage es nicht, denn meist scheint es bloss so, ist es aber nicht.
Sie sehen, die Arbeiten, die Franziska Furrer vor uns hinstellt, lassen uns nachdenken über Sein und Schein. Sie sind aus ganz gewöhnlichen Materialien und werfen ungewöhnliche Fragen auf. Noch dazu, wenn wir die Titel dazu lesen. Der Stein will endlich etwas in Ordnung bringen. Doch was gibt es Unordentlicheres als einen Findling, der da liegt, wo er nicht hingehört? Die stachligen Kugeln aus Zahnstochern heissen «Votiv (konstruktion und erinnerung)» und erinnern daran, dass es die alte Tradition der Votivgaben gibt, mit denen sich fromme Frauen für
eine geglückte Geburt bedanken. «On and on and on and on» heisst die schwarze Wolke, die Franziska Furrer wirklich aus lauter Wollknäueln zusammengefügt hat: wieder und wieder und wieder hat sie die Wolle vom Knäuel abgewickelt und auf die Lochscheibe aufgewickelt.
Solche repetierten Bewegungen gehören zum Schaffen von Franziska Furrer. Durch sie verändert sie die Materialien, die sie de
m Alltag entfremdet: Schachtelweise steckt sie die
Zahnstocher zu Kugeln ineinander, Nadel um Nadel stösst sie ins Kissen –
und denkt dabei nach über Schein und Sein. Bestimmt hat sie sich mit solcherlei Fragen auch während ihres Aufenthalts im Zentralschweizer Atelier in New York auseinandergesetzt. Es sei, sagt sie, eine Zeit gewesen, die sie aus dem Gewohnten herausgehoben und über sich und ihre künstlerische Arbeit habe nachdenken lassen.
Urs Bugmann