Die Länge einer Stunde
Performance Franziska Furrer
13. August 2011, 15.05
–
16.05 im Historischen Museum, Altdorf, Kt. Uri im Rahmen des Internationalen Musikfestivals ALPENTÖNE.
-Es ist 22.56, am 18. August 2011. Ich startete Word und begann zu schreiben. Die Länge einer Stunde!
Die Performance der Altdorfer Künstlerin Franziska Furrer überprüfte diese Masseinheit im Historischen
Museum in Altdorf. Ich gab mir exakt eine Stunde, um diesen Text zu schreiben.
-Franziska Furrer sass unter einer kartografischen Darstellung des Kantons Uri, die mit einem Massstab
versehen war, dessen Einheit nicht in heute üblichen Kilometern angegeben war, sondern mit einer Strecke, die der Kartograph in einer Stunde vermutete, zurücklegen zu können. Diesem Massstab entsprechend bräuchte ich von Flüelen nach Amsteg ca. 7 Stunden. Der Fussweg war wahrscheinlich die Norm, die Postkutsche die Ausnahme. Und wie wäre ein Reisender ausser Atem geraten, wenn er bergauf die gleiche Distanz einer Stunde hätte zurücklegen müssen, wie im feuchten, sumpfigen, aber mit einem befestigten Weg versehenen Abschnitt über Altdorf, Schattdorf, Erstfeld nach Amsteg. 23.03!
-Der Faden fiel weich auf ein quadratisches Brett auf den Knien der Performerin. Mit jedem Griff 20, 30
Zentimeter weniger auf der Fadenspule, gleichmässig wie der Schritt des Wanderers legte sich die Spur auf die Fläche. Ein Labyrinth zuerst, dann, mit dem Ticken der Küchenuhr, stiegen die Fadenlagen langsam deutlicher in die dritte Dimension. Die Puppe im Hintergrund vor der alten Postkutsche stehend, schien mit stoischer Ruhe dem Wachsen des Knäuels zuzuschauen. 23.10!
-Dieselbe Ruhe strahlte Franziska Furrer aus. Nur die Hand bewegte sich auf und ab, wie die in Zeitlupe sich hebende und senkende Nadel einer Trettnähmaschine. Braun und rot legte sich das Garn, Lage um Lage. Es war nicht mehr als Ariadnefaden zu gebrauchen, den kein Besucher, keine Besucherin hätte dem Faden folgen wollen, um den Anfang zu finden. Dieser hat sich in der Zeit verloren, für deren Anfang sich niemand mehr interessierte. Eher dachten viele an den Schluss. Wie lange reicht der Faden? Was geschieht, wenn die Eieruhr das Ende einer Stunde kündet? 23.16!
-Die Zuschauerinnen und Zuschauer betrachteten erst gespannt das stille Tun Franziska Furrers.
Ruhe lag im Raum. Mit der dritten Fadenspule deutete sich erste Unruhe an. Der imaginäre Wanderer fragte sich, ob er das Zeitmass mit seinem Schritte einhalten konnte. 23.23!
-Zu Knäueln gewachsen rote, braune, grüne Fadenwolken erinnern an die Vergänglichkeit allen Irdischen, aller Gedanken und gemahnten an den Tod. Jede Stunde die vergeht, ist eine Stunde näher dem absoluten Ende. Die leeren Spulen –
ist es Zufall, dass alle weiss sind? –
liegen am Boden neben dem Wasserglas, zu dem die Künstlerin ab und zu greift, um den Durst zu löschen, wie es der Wanderer auch zu tun gedachte, vielleicht aus einem Brunnen im Dorfkern Altdorfs. Franziska Furrer lässt die fünfte Spule aus der hängenden Hand auf den Boden fallen: ein klapperiges Geräusch der dürren Knochen im Beinhaus! Die Haare, die der Tod nicht mitzureissen vermag, lagen auf den Knien der Künstlerin. 23.31!
-Die Zeit beginnt aber auch mit dem werdenden Leben, auch wenn sie sofort unaufhaltsam verrinnt.
Franziska Furrer ist hoch schwanger. Vielleicht im 8 Monat. Die Schwangerschaft dauert an der Norm
gemessen, 6480 mal länger als die Stunde, deren Länge es hier zu überprüft galt. Mit der Geburt wird das Garn abgespult, zuerst vielleicht in Sekunden bis zum ersten Schrei, dann in Stunden bis zum Abklingen der Schmerzen der Geburt, dann in Tagen bis zum Öffnen der Augen und damit zur ganzheitlichen Wahrnehmung der Welt. Die Stunden bedeuten nichts. Es ist das Glück. 23.36!
-Das Ticken der Eieruhr zählte die Zeit zurück. Noch 20 Minuten blieben, 40 Minuten waren vergangen. Die siebte Spule liegt im Beinhaus unter dem Stuhl. Die Performance wird zum Teil ihrer Umgebung. Hier im historischen Museum liegen die Zeugen der verstrichenen Zeit, die Momente weit zurückliegender Ereignisse und Lebensweisen aufscheinen lassen 23.44!
-Die Empfindung schlug der Zeit ein Schnippchen. Wer während der ganze Dauer vor der Kutsche stehend
oder am Türrahmen eines barocken Herrenhauses angelehnt der Kunst Beachtung zollte, wird wohl eine
gedehnte Erinnerung an die Performance mitgenommen haben. Anders wird derjenige Besucher, der in
der Zwischenzeit die Entdeckungsreise durch die Zeugnissammlung von der aus dem 17. Jahrhundert stammende Wiege bis zu den Brotteigfiguren der Gebrüder Arnold angetreten hatte, die Stunde als Kurzweil erfahren haben. 23.49!
-Wenige Minuten verblieben. Die Kunstinteressiert eilten herbei, wie die Hirten zur Krippe, um das Ende
der Stunde nicht zu verpassen. Die Eieruhr scherbelt, Franziska Furrer riss den Faden ab, legte die letzte
Spule zu den andern. Das Ende der Stunde, ist der Anfang der neuen. Es bleibt keine Zwischenzeit. Wie bei
jeglichem Leben, dass das Feuer oder die .....23.56!
© Heinz Keller